In Genuine Madness legt John Raymond, wie jeder andere Schüler seiner Jahrgangsstufe auch, einen IQ-Test ab. Dieser eine Test teilt ihn einer von zwei Gruppen zu: Smarts oder Lames. Smarts erhalten Bildung, leben in Wohlstand und sind bei bester Gesundheit. Lames dagegen bleiben am unteren Rand der Gesellschaft hängen. Sie sind Verlierer ohne Chancen.

Wie ist das in der Realität? Ist Intelligenz Ursache oder Wirkung von Bildung? Und macht uns eine hohe Intelligenz erfolgreicher? Schauen wir uns ein paar Fakten an und machen Intelligenz zunächst fassbar.

Was ist Intelligenz?

Bis heute gibt es keine allgemeingültige Definition. Konsens herrscht dagegen, dass es einen allgemeinen Faktor der Intelligenz (g-Faktor) gibt. Hierunter fallen die Fähigkeit zu abstraktem Denken, Wissen zu erwerben, abstrakt zu argumentieren, sich auf neue Situationen einzustellen und aus Unterricht und Erfahrung zu lernen. Neben der allgemeinen Intelligenz gibt es unzählige weitere Formen wie zum Beispiel die der speziellen Intelligenz (s), die auf bestimmte Fähigkeiten in engen Wissensgebieten eingegrenzt ist. Oder die fluide Intelligenz, die im Gegensatz zur kristallinen Intelligenz die Fähigkeit zur Problemlösung durch logisches Denken beschreibt, während die kristalline Form auf Problemlösung durch Lebenserfahrung setzt. Diese Definitionen allein zeigen schon die Schwierigkeiten auf, Personen (wenn man das will) zu kategorisieren. Als allgemeiner Vergleichswert wird trotzdem oft der g-Faktor herangezogen und auch getestet.

Was misst ein Intelligenztest?

Einer der weltweit am häufigsten angewendeten Intelligenztests ist der Hamburg-Wechsler-Intelligenztest (engl. WAIS), den es sowohl für Erwachsene als auch in zwei abgewandelten Formen für Kinder gibt (WPPSI: 2.5-7 Jahre, WISC: 6-16 Jahre). Es werden Sprachverständnis, wahrnehmungsgebundenes, logisches Denken, Arbeitsgedächtnis und Verarbeitungsgeschwindigkeit untersucht. Der Test für Erwachsene ist über eine Stichprobe mit mehreren tausend Probanden im Alter von 16-95 Jahren durchgeführt worden. Das Alter einer Testperson spielt eine entscheidende Rolle und wird bei der Auswertung berücksichtigt. Dabei bedeutet ein IQ von 100, dass man eben genau in der Mitte der Stichprobe liegt, also eine durchschnittliche Intelligenz aufweist. Zumindest wird der Messwert darauf normiert. Ebenfalls als durchschnittlich zählen Werte zwischen 90 und 109. Hochbegabung beginnt ab 130 IQ-Punkten und Entwicklungsschwierigkeiten nimmt man bei einem IQ unter 70 an.

In Genuine Madness klassifiziert die US-Regierung alle Schüler mit einem IQ über 130 als Smart, was in der Realität bedeutet, dass etwa 97% der Bevölkerung nicht in diese Kategorie fallen. Das würde heißen, dass nur ein sehr kleiner Personenkreis in den Genuss der Privilegien im fiktiven Amerika kommt. Ich verrate hier absichtlich nicht, wie Washington das Problem im Buch löst …

Erben wir unsere Intelligenz?

Zum Teil, ja. Aus Zwillingsstudien schlossen Wissenschaftler, dass 40% bis 80% unserer Intelligenz von den Genen abhängt (Plomin und Spinath). Der IQ von eineiigen Zwillingen (also Geschwister mit gleicher DNS) korreliert sehr stark, wohingegen dieser Zusammenhang bei zweieiigen Zwillingen weniger stark ausgeprägt ist. Ebenfalls korreliert der IQ zwischen Eltern und leiblichen Kindern stärker als der IQ zwischen Eltern und ihren Adoptivkindern. Trotzdem ist die Genetik nicht der einzige Grund für einen hohen oder niedrigen IQ. Wachsen zum Beispiel eineiige Zwillinge getrennt auf, unterscheiden sich ihre IQs stärker voneinander (Plomin und Spinath, Kendler et al.).

All dies spricht für einen erheblichen Einfluss der Umwelt. Damit ist die Theorie, dass wir alle mit einem genetisch vordefinierten, unveränderlichem Maß an Intelligenz geboren werden, nicht haltbar.

Ist Intelligenz erlernbar oder trainierbar?

Menschen mit höherer allgemeiner Intelligenz lernen schneller, sagen Wissenschaftler. Aber Lernen erhöht gleichzeitig auch die Intelligenz. Beide Effekte lassen sich nicht klar voneinander trennen. Interessanterweise haben Forscher nämlich herausgefunden, dass der IQ von Schulkindern während der Sommerferien sinkt (Huttenlocher et al.). Bei dieser Studie müssen Sie allerdings berücksichtigen, dass sie in Nordamerika durchgeführt wurde. Dort dauert die Sommerpause etwa drei Monate und damit fast doppelt so lang wie in Deutschland. So schön ausgiebige Ferienzeiten auch sind, können sie eben auch auf der anderen Seite zu Lern- und Intelligenzdefiziten führen. Dieses Studienergebnis stimmt überein mit den Erfahrungen aus Nachhilfeprogrammen. Die durch die zusätzlichen Unterrichtseinheiten erzielte Intelligenzsteigerung ist leider nur temporär und klingt nach der Beendigung der Nachhilfe wieder ab (McLoyd).

Ist alles Üben umsonst? Ganz sicher nicht. Wenn die Studien eins zeigen, dann dies: Lebenslanges, kontinuierliches Lernen ist enorm wichtig. Es trainiert das Arbeitsgedächtnis, das bei IQ-Tests gefordert wird. Und es gibt weitere Faktoren neben dem IQ, die sich durch Lernen positiv entwickeln, zum Beispiel Konzentration und Motivation. Unser Gehirn benötigt Müßiggang zwischendurch, um Erlebtes und Gelerntes zu verarbeiten und mal abzuschalten. Die Pause sollte aber nicht zu lang sein und besser nicht von Dauer.

Ist ein hoher IQ Ursache oder Wirkung von Bildung?

In all diesen Studien wurden Korrelationen zwischen verschiedenen Faktoren untersucht. Dies sagt aber nicht unbedingt etwas über die Ursachen aus. So kann man verblüffenderweise die Ausgaben des US-Staatshaushalts für Wissenschaft und Technik mit der Selbstmordrate durch Erhängen positiv korrelieren. Zu einem sinnvollen Ursache-Wirkungsprinzip kommt man dabei aber nicht.

Psychologische Studien sind selbstverständlich ausgefeilter. Ein Kritikpunkt bleibt trotzdem: Sie sind nicht frei von unfreiwilligen Verzerrungen. Und das geben seriöse Wissenschaftler auch zu. Wie oben beschrieben, lassen sich bei der Verbindung von Bildung und IQ die Effekte nicht sauber voneinander trennen. Es ist ein bisschen von beidem: Mehr Bildung steigert den IQ und ein hoher IQ fordert mehr Bildung ein.

Lesen-steigert-Intelligenz

Welchen Einfluss haben die Lebensumstände?

Unzählige. Armut, zum Beispiel, führt bei Kindern zu massiven kognitiven Einbußen (Brooks-Gunn und Duncan). Ein zu geringes Haushaltseinkommen spiegelt sich laut Wissenschaftlern in einer schlechten Ernährung wider, die die Gehirnentwicklung bremst und die Intelligenzherausbildung vermindert. Vitaminmangel und Umweltgifte können weitere Faktoren sein, die positive Entwicklungen hemmen können.

Wie immer im Leben ist elterlicher Wohlstand nicht der wichtigste Faktor für die geistige Entwicklung von Kindern. Wesentlich wichtiger als das Haushaltseinkommen sind Bildung der Eltern oder zumindest das Interesse der Eltern an der Bildung ihrer Kinder (Povey et al.). Wobei wir auf die zentrale Frage des Artikels zurückkommen.

Sagt ein hoher IQ Erfolg im Leben voraus?

Das wäre doch schön, oder? Da hätte man so eine runde, griffige Zahl, an der alles abgelesen wird. Im Harvard Business Review wirbt ein Personalberater in Hiring for Smarts vollmundig für den Einsatz von IQ-Tests, um die CEOs von morgen zu identifizieren. Seiner Meinung nach gäbe es keine bessere Möglichkeit, Erfolg vorauszusagen. Am IQ-Test bei der Einstellung führe kein Weg vorbei. Aber sind die Daten wirklich so eindeutig? Bestimmt ein hoher IQ Erfolg im Leben?

Ja, es gibt eine gewisse Korrelation zwischen dem g-Faktor und Karriereerfolg, Gehalt, etc (Strenze). Aber eben auch nicht mehr. Ebenso korrelieren Schulnoten der Kinder mit dem Einkommen der Eltern zu einem gewissen Grad. Für eine Glorifizierung des IQs zum einzigen Erfolgsparameter reicht es aber nicht.

Am besten sagt der IQ noch eine gewisse Wahrscheinlichkeit für das Erreichen eines Schulabschlusses oder eines akademischen Grads voraus (Deary et al.). Oft, aber nicht immer, korreliert ein höherer Bildungsabschluss mit einem höheren Haushaltseinkommen.

Wie ist der Einfluss nicht-kognitiver Faktoren auf Erfolg?

Um diese Frage zu untersuchen, schauten Wissenschaftler einmal tief in die vorhandene Literatur – mit einem erschreckenden Ergebnis. In einem relativ jungen Artikel in Nature Human Behavior verwarfen die Autoren 60% der in Frage kommenden Studien, weil sie Qualitätsmängel aufwiesen.

Von den verbleibenden 222 Studien identifizierten sie 14 (!), die vom Studiendesign prädiktiv angelegt waren und damit für ihre Metanalyse geeignet. Und das Bild, was sich zeigte, war vollkommen heterogen: Die Vorhersagekraft von nicht-kognitiven Fähigkeiten wie psychosoziale Aspekte (Familienverhältnisse, Umgebungsbedingungen) war heterogen. Verzerrungen der einzelnen Studien erschwerten die Auswertung. Allerdings gab es kleine Hinweise darauf, dass nicht-kognitive Effekte eine Rolle spielen könnten, späteren Erfolg vorherzusagen. Die Autoren empfahlen ihren Wissenschaftlerkollegen weitere, besser angelegte Studien durchzuführen, um dieser Frage auf den Grund zu gehen.

Welche Bedeutung hat der IQ für mein Leben?

In den meisten Fällen liegt das ganz bei Ihnen. Für John Raymond in Genuine Madness ist er extrem wichtig. Der IQ ist sein Türöffner in die Welt der Smarts.

Für alle anderen in der realen Welt kann er helfen, wie viele andere Faktoren auch, gute Entscheidungen zu treffen. Aber auch ein „niedriger“ g-Faktor bedeutet nicht, schlechte Entscheidungen zu treffen. Ganz im Gegenteil. Manche Menschen haben herausragende Nischenbegabungen (spezielle Intelligenz), die sie absolut einzigartig machen. Andere besitzen viel Lebenserfahrungen (kristalline Intelligenz), die ihnen weiterhilft, oder sie erschließen sich alles logisch (fluide Intelligenz). Ein hoher g-Faktor wird oft als Variable benutzt, um akademischen Erfolg vorherzusagen. Einige Universitäten führen IQ-Tests als Aufnahmekriterium durch. In einem zukünftigen Artikel werde ich das näher beleuchten. Die Aussagekraft solcher Tests ist aber oft missverstanden, denn eine Korrelation gibt nur eine Wahrscheinlichkeit an. Aber ein hohes (g) ist keine Garantie für Erfolg.

Eins steht abschließend fest: Der IQ steuert weder unsere Zukunft noch unsere Zufriedenheit im Leben. Dafür sind wir Menschen zu komplex. Und weil dies so ist, können wir keine Zahl der Welt als Entschuldigung benutzen, wenn es einmal nicht so gut läuft. Und wenn es trotz aller Schwierigkeiten gut für Sie läuft: Glückwunsch. Glauben Sie, Ihr IQ war dafür verantwortlich?

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